anhand des Beispiels von Carlhans Jung aus Euskirchen
von Andreas Züll, M.A.
Vortrag am 30. Januar 2024 ab 18:00 Uhr im Alten Casino Euskirchen
Theodor Adorno formulierte ein Dogma, das sehr viel einfacher klang, als es in Wirklichkeit war: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“.[1] Daran gab es nichts zu rütteln und zu deuteln, das war eine simple Wahrheit. Sie war von Anfang an tief eingeschrieben in die DNA der Bundesrepublik. Der Holocaust – oder mit dem hebräischen Wort für Unheil oder Katastrophe: die Shoah – war keineswegs ein Nebenschauplatz des Weltkrieges. Beides bedingte einander, erst der Krieg hatte die Voraussetzungen für den Völkermord geschaffen und dynamisierte ihn; erst die völlige deutsche Niederlage hatte ihn schlussendlich zum Stillstand bringen können. Ebenso hatte der Nationalsozialismus, dessen Wesenskern der Antisemitismus war, den Krieg überhaupt erst entfesseln können. Der Gewaltraum Zweiter Weltkrieg stand auf ideologischem Fundament.
Wie jede Form von Rassismus, so entspringt auch der Antisemitismus einem Hirngespinst. Ein Schluss, zu dem auch der Soziologie Daniel Jonah Goldhagen gelangt: „Insbesondere die deutsche antisemitische Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts[,] mit ihren barbarischen und wahnhaften Auffassungen über das Wesen der Juden“, so schreibt er darin, „ist derart wirklichkeitsfern, daß jeder, der so etwas liest, denken muß, er habe die gesammelten Schriften von Verrückten vor sich.“[2] Dass all das frei erfunden war, bedeutete aber keineswegs, dass nicht zahlreiche glühende Nationalsozialisten überzeugt von ihrer Ideologie und ihrer Rechtschaffenheit gewesen wären, auch wenn sich viele von ihnen des verbrecherischen Charakters ihrer Taten bewusst waren. Himmler selbst nannte in einer der vielzitierten Posener Reden vor Reichs- und Gauleitern im Oktober 1943 mit unsäglichem Zynismus den Mord an den Juden Europas ein „nie geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte“,[3] und offenbarte damit auch, dass die Nationalsozialisten sehr wohl wussten, was sie taten.
Die alte Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, sie ist keineswegs erfüllt. Sie bleibt aktuell, so ernüchternd es auch sein mag. Und immer noch gibt es Aspekte, die kaum erforscht oder zumindest kaum bekannt sind und die einer näheren Betrachtung bedürfen. Einer dieser Aspekte ist zweifellos die nach ihrem berüchtigten Kommandeur benannte SS-Sonderformation Dirlewanger. Man könnte sie als eine Art ‚Bewährungseinheit‘ der Waffen-SS verstehen. In der nationalsozialistischen Propaganda bestand sie offiziell aus Wilderern, den sog. Wildschützen. In Wahrheit jedoch setzten sich ihre Mannschaften zu großen Teilen aus Häftlingen – Freiwilligen wie Gepressten – aus den Konzentrationslagern zusammen. Diese begingen nun ihrerseits in der Uniform ihrer eigenen Peiniger die abscheulichsten Verbrechen. Fast drei Jahre lang mordete sich die Sonderformation im Verbund mit den Einsatzkommandos des SD und Einheiten der Ordnungspolizei durch Polen, Weißrussland und abermals Polen. „Mehr Gräueltaten als von jeder anderen Einheit wurden vom SS-Sonderkommando Dirlewanger begangen,“ konstatiert auch der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seiner herausragenden Darstellung über die Bloodlands Osteuropas in jener düsteren Epoche.[4]
Der britische Historiker Ian Kershaw schreibt 2015 in Höllensturz: „Die Flammen der Krematorien in den Todeslagern waren buchstäblich die physische Manifestation der Hölle auf Erden.“[5] Wie ließe sich daran auch zweifeln? Das allerdings ist nur die eine Seite des Grauens, das der SS-Staat in die besetzten Gebiete trug. Denn nicht alle meist jüdischen Opfer wurden vor ihrer Ermordung in ein Vernichtungslager verschleppt. Snyder zieht die Grenze auf jener Linie, auf die sich die Außenminister Molotow und Ribbentrop im Geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt geeinigt hatten: „Etwa 5,4 Millionen Juden starben unter deutscher Besatzung. Fast die Hälfte von ihnen wurde östlich der Molotow-Ribbentrop-Linie ermordet, meist durch Kugeln, seltener durch Gas. Der Rest starb westlich der Molotow-Ribbentrop-Linie, meist durch Gas, seltener durch Kugeln.“[6] Um beide Formen der Shoah zu unterscheiden, hat die neuere Forschung die Begriffe Holocaust by Gas und Holocaust by Bullets geprägt. Letzterer ist gelegentlich auch der ‚vergessene Holocaust‘ genannt worden. Zu den Tätern des Holocausts durch Kugeln zählte auch die Sonderformation Dirlewanger. Einer der Männer, die ihr angehörten, stammte aus Euskirchen: Der wegen Betrugs verurteilte Kaufmann und Lagerhäftling Carlhans Jung. Seinem glücklosen Lebensweg wollen wir folgen, von seiner Geburt im Kaiserreich bis zu seinem Tod in Weißrussland.
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Es war eine Welt im Umbruch. „Die radikalen sozialgeographischen, sozialökonomischen und sozialkulturellen Veränderungen“, so ruft Thomas Nipperdey in seiner großen Deutschen Geschichte geradezu aus, „haben die Lebenswelt, ihre Institutionen und die anerkannten Normen in Bewegung gebracht, aufgelöst und umgeformt“.[7] Zwar dauerte um die Jahre 1899/1900 noch an, was heute Historiker als das lange 19. Jahrhundert bezeichnen, doch das 20. Jahrhundert, dieses kurze Zeitalter der Extreme[8], zeichnete sich bereits ab und warf seine langen dunklen Schatten voraus. Das deutsche Kaiserreich hatte seit seiner Gründung 1871 einen rasanten Wandel vollzogen, vom verspäteten armen Bauern Europas zu einer der führenden Weltwirtschaftsmächte. Auch bisher eher verschlafene Städte wie Euskirchen in der Rheinprovinz erlebten nun einen raschen Aufschwung. Das Wachstum von Industrie und Wirtschaft hatte auch ein Wachstum der Bevölkerung zur Folge. Hatte die Stadt bei der Volkszählung von 1885 noch 8.087 Einwohner gezählt, so waren es zwanzig Jahre später im Jahr 1905 bereits 11.347.[9] In diese Zeit der Umbrüche nun wurde am 15. Mai 1899 in Kuchenheim Carl Johann Jung hineingeboren, Sohn des Zimmerermeisters Peter Joseph Jung und dessen Ehefrau Marie Wilhelmine Christiane geborene Lüttecke.[10] Es mag eine kuriose, wenn auch recht bittere Ironie der Geschichte sein, dass in dem gleichen verschlafenen Nest fast zwanzig Jahre später auch Willy Graf, einer der Widerstandskämpfer der Weißen Rose, zur Welt kam, den wie Jung der Nationalsozialismus das Leben kosten sollte, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Die Familie Jung siedelte bald nach Euskirchen um, wo Vater Peter eine Zimmerei mit Sägewerkholzhandlung eröffnete. Wirtschaftlich scheint es den Jungs in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg recht gut gegangen zu sein, das Familienunternehmen warf offenbar einiges an Gewinn ab. Sohn Carlhans sollte es dabei wohl einmal ‚besser haben‘. Seine Eltern schickten ihn auf die Ordens- und Missionsschule der Dominikaner im oldenburgischen Vechta. Sein erstes Zeugnis aus dieser Zeit weist ihn als geradezu langweilig normalen Schüler aus, durchaus pflichtschuldig, aber wohl nicht übermäßig interessiert. Nichts deutete daraufhin, dass der Ordensschüler aus dem Rheinland einmal einen ungewöhnlichen Lebenslauf nehmen würde. Die letzten Zeugnisse aus dem Schuljahr 1915/16 hielten jedoch in den Kopfnoten gelegentlich fest: nicht immer gut. Der 17Jährige mag anderes im Kopf gehabt haben. Schon im Spätsommer 1914 hatte der Erste Weltkrieg begonnen, seine Heimatstadt Euskirchen war kurz darauf zur Garnisons- und Lazarettstadt geworden. Ob das singende, klingende Spiel der ausziehenden Truppen dem Jungen imponiert hat? Wir wissen es nicht. Jung schloss die Schule in Vechta jedenfalls nicht ab, sondern kehrte heim nach Euskirchen, wo er zunächst das Emil-Fischer-Gymnasium besuchte, offenbar bereits in der Absicht, sich bei nächster Gelegenheit freiwillig zu melden. Bereits im Juli 1917 war der Gymnasiast Carlhans Jung aus Euskirchen Soldat. Bald darauf fand er sich auf den Schlachtfeldern Flanderns wieder. Er hatte seinen ersten Gewaltraum betreten.
Aus einem militärischen Führungszeugnis vom 1. Juli 1917 geht hervor, dass der Schütze Carl Jung zur 3. Maschinen-Gewehr-Kompanie des (2. Großherzoglich-Hessi-schen) Infanterie-Regiments 116 gehörte. Das IR 116 war durchaus ein traditionsreicher Verband. Regimentschef war niemand Geringeres als Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich, dessen Name das Regiment als Ehrentitel trug. Jung scheint seinem Kaiser durchaus Ehre gemacht zu haben. „Während seiner Zugehörigkeit zur Kompanie“ habe er sich „sehr gut geführt, „[g]egen ihn sei „nichts Nachteiliges bekannt“, so ist es im besagten Führungszeugnis zu lesen. Das Regiment stand bereits seit Beginn des Krieges in Frankreich im Gefecht, hatte an der Marne und der Somme gekämpft, bei Verdun ebenso wie am Chemin de Dames. Im Frühjahr 1917 hatte es sich auf die Siegfried-stellung im Raum St. Quentin zurückziehen müssen und verlegte weiter nach Französisch-Flandern.[11] Spätestens dort stieß auch Jung zum Regiment. Vermerkt ist, dass er am 30. September 1918 krank ins Lazarett abgegangen ist. Von dort aus scheint er nicht mehr an die Front zurückgekommen zu sein. Für Jung war der Krieg vorbei.
Sein Entlassungsschein datiert auf den 25. November 1918, ausgestellt hat ihn das Bezirkskommando Bonn. Als letzter Dienstgrad ist darauf Gefreiter der Reserve angegeben, dahinter – kaum noch zu lesen – die Abkürzung für Offiziersaspirant, dem-nach wäre Jung also bei Kriegsende Offiziersanwärter gewesen, was auch eine spätere Mitgliedschaft im Bund Deutscher Offiziere nahelegt. Überhaupt suchte Jung fortan immer wieder die Nähe des Militärs. Zunächst aber kehrte er nach Euskirchen zurück und fand dort eine Anstellung im Quartieramt der Stadt. Auf Niederlage und Zusammen-bruch des Kaiserreiches folgten die unsteten Jahre der Weimarer Republik. Jung nahm in den folgenden Jahren noch viele weitere Stellen an, meist in Verwaltung oder Buch-haltung, blieb selten länger als einige Monate. Es folgten Zwischenstationen in Bochum, Dortmund, Bad Kissingen, Berlin, Köln. Im August 1924 wurde er im heimatlichen Euskirchen Geschäftsführer von ‚Josef Jung und Söhne‘. Doch auch das Familien-unternehmen bot nur vermeintlich einen sicheren Boden. Im Sommer 1926 musste es schließlich aufgeben. Die Suche nach Arbeit führte Jung nun weiter über Bad Godesberg und Saarbrücken schließlich nach Kassel. Dort heiratete er am Vorabend der Macht-übernahme am 27. Januar 1932 standesamtlich die geschiedene Auguste Grünthal geb. Katzenstein,[12] genannt Gustel. Sie stammte aus einer jüdischen Familie aus Göttingen und brachte einen Stiefsohn in die Ehe mit ein, den damals 7 Jahre alten Hermann.[13]
Jung betrieb in Kassel zeitweilig eine Möbelhandlung.. In der Heiratsurkunde ist sein Beruf mit Kaufmann angegeben. Er suchte offenbar auch in Kassel Anschluss an andere Kriegsveteranen, besaß einen Ausweis des Nationalsozialistischen Deutschen Front-kämpferbundes (NSDFB), ehemals Stahlhelm.[14] Unterdessen überschlugen sich in Deutschland die Ereignisse. Am 30. Januar 1933 hatte Reichspräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt.
Die Ehe zwischen Jung und seiner Frau wurde im November 1934 rechtskräftig geschieden. Es mag auf den ersten Blick naheliegend erscheinen, dass die jüdische Abstammung seiner Frau hierbei eine Rolle gespielt haben mag, zudem Jung die Scheidung eingereicht hatte. Bewiesen werden indes kann dies durchaus nicht. Das Scheidungsurteil stellte jedenfalls fest: „Beide Parteien sind schuldig an der Scheidung. Die Kosten des Rechtsstreit werden gegeneinander aufgehoben.“[15] Noch funktionierte der deutsche Rechtsstaat, zumindest in Teilen. Unabhängig von der Schuldfrage verlor Auguste jedoch mit der Scheidung den Schutz, den die Ehe mit einem sog. deutsch-blütigen Partner im weiteren Verlauf geboten hätte. Die Datenbank der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und das Gedenkbuch des Bundesarchivs verzeichnen das weitere Schicksal der beiden Grünthals.[16] Kurz nach der Scheidung nahm Auguste den Familiennamen ihres ersten Mannes Willi Grünthal wieder an.[17] Unter diesem Namen wurde sie zunächst von Kassel nach Chemnitz in Sachsen deportiert. Von dort aus gelangte sie am 7. September 1942 in das Ghetto Theresien-stadt. Am 29. Januar 1943 traf sie in Auschwitz ein, wo sich ihre Spur verliert. Es ist anzunehmen, dass Auguste unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast wurde. Ihrem Sohn Hermann gelang um den 4. Januar 1939 die Emigration in die Niederlande. Dort war er zuletzt seit dem 22. März 1939 im Waisenhaus für Jungen in Amsterdam gemeldet.[18] In den Niederlanden ging man im Oktober 1939 dazu über, Flüchtlinge aus Deutschland im Lager Westerbork zu internieren. Von dort aus wurde er am 24. Juli 1942 von der SS nach Auschwitz deportiert und am 30. September 1942 ermordet. Er war also bereits tot, als seine Mutter im darauffolgenden Januar dort eintraf. Carlhans Jung befand sich zu diesem Zeitpunkt seinerseits bereits seit drei Jahren als Häftling in Buchenwald. Der Weg dorthin hatte allerdings wesentlich früher begonnen. Irgendwann 1934/35 wurde der nunmehr geschiedene und abermals arbeitslose Jung straffällig, offenbar aus der Not heraus. Besonders geschickt scheint er sich zudem nicht angestellt zu haben dabei. Schon kurz darauf fand er sich vor Gericht wieder. Seine nächste Station sollte das Zuchthaus in Kassel-Wehlheiden sein.
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Im Hessischen Landesarchiv hat sich eine Karteikarte erhalten, derzufolge Jung am 15. August 1935 wegen Betruges im Rückfall und Unterschlagung zu drei Jahren und zwanzig Tagen Zellenhaft verurteilt wurde, beginnend mit dem 28. Oktober 1935 um 9 Uhr morgens, endend am 17. November 1938 um 12:30 Uhr. Über die genaueren Umstände seines Vergehens und den Tathergang gibt die Karteikarte bedauerlicherweise keinen Aufschluss. Zum Zeitpunkt seiner Verurteilung hatte er keine Vorstrafen, die Tat begangen hatte er allein. Am 20. November 1935 wurde er wegen Untreue zu einem weiteren Monat und zwei Wochen Haft verurteilt, sodass er erst am 1. Januar 1939 entlassen wurde. Auf der Karteikarte ist Aachen als Entlassungsziel vermerkt. Dort zog er mit seiner Verlobten Maria Jessnitz ein, genannt Mia, von Beruf Modistin. Sie tritt in den erhaltenen Dokumenten erstmals mit einem Schreiben Jungs vom 3. Juli 1939 an das Bürgermeisteramt Kuchenheim bei Euskirchen in Erscheinung. Darin bat Jung um die väterliche Geburts- und die elterliche Heiratsurkunde „[z]wecks Eingehung der Ehe“, das Paar wollte demnach zügig heiraten. Jung bemühte sich unterdessen offenbar redlich darum, sich wieder in die nationalsozialistische Gesellschaft einzufügen. Eine Chance dazu, so scheint er geglaubt zu haben, bot sich ihm mit Kriegsausbruch. Bereits am 4. Mai 1938, also noch während der Haft in Wehlheiden, hatte der Polizeipräsident in Kassel dem Wehrpflichtigen Jung bescheinigt, dass er sich zur Anlegung des Wehrstammblattes angemeldet habe. Das Wehrbezirkskommando Kassel I hatte ihn mit Datum vom 20. August 1938 aufgrund der Haftstrafe dauerhaft „vom Dienst in der Wehrmacht im Frieden ausgeschlossen“.[19] Von Aachen aus wandte sich Jung nun am 1. September 1939 – dem Tag des Überfalls auf Polen – an eben dieses Wehrbezirks-kommando und bat um Wiederaufnahme in die Armee. Es ist dies eines der wenigen Dokumente von seiner eigenen Hand. Ich zitiere:
„Hierdurch bitte ich ergebenst um Wieder-Einstellung in den Heeresdienst. Am 20.8.38 bin ich wegen einer Zuchthausstrafe aus dem Wehrdienst ausgeschlossen worden. In großer vaterländischer Not möchte ich nicht hintanstehen, sondern auch teilhaben an den großen Pflichten eines jeden Deutschen. Vor allem aber möchte ich durch diese Pflicht ein begangenes Unrecht gutmachen, das ich aus großer wirtschaftlicher Not beging.“[20]
Das Schreiben wurde „mit dem Bemerken zurückgesandt, daß z. Zt. eine Bearbeitung des Antrages nicht möglich ist“. Offenbar hatte man sich bei der Wehrmacht nun um dringendere Dinge zu kümmern. Es wurde ihm allerdings anheimgestellt, den Antrag „unter Beifügung eines politischen Führungszeugnisses […] über die Ortspolizeibehörde zu wiederholen“.[21] Dazu kam es jedoch nicht mehr. Am 3. September 1939 wurde Jung von der Kripo Aachen erneut in Haft genommen, er war in sog. polizeiliche Vorbeugungshaft geraten, womit er auch ohne richterliches Urteil unbefristet festgehalten werden konnte. Dies bedeutete im nationalsozialistischen Deutschland nichts anderes als die bevor-stehende Einweisung in ein Konzentrationslager. In den Unterlagen des ehemaligen Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen sind über Jung einige aufschluss-reiche Dokumente erhalten geblieben. Daraus geht hervor, dass er von der Kripo Aachen am 11. September 1939 unter der Häftlingsnummer 6024 nach Buchenwald überstellt („eingeliefert“) wurde. Bedauerlicherweise hat sich kein Dokument aus Jungs eigener Hand erhalten, das uns von seiner Ankunft im Konzentrationslager erzählen könnte. In dem späteren Politikwissenschaftler Eugen Kogon finden wir jedoch einen Augenzeugen ersten Ranges. Er traf nur elf Tage nach Jung – am 22. September – in Buchenwald ein. Sein Bericht Der SS-Staat, begonnen 1946 unmittelbar nach Kriegsende, vermittelt uns einen Eindruck von dem, was auch Jung bei seiner Ankunft erlebt haben dürfte:
„Die Gefangenen wurden von den Bahnhöfen entweder in den bekannten geschlossenen Polizeilastwagen oder auf Lastautos zusammengepfercht oder in langen Elendsreihen zu Fuß zum KL gebracht. […] Der Ankunft folgte die Empfangszeremonie: Ein Rudel herumlungernder Scharführer stürzte sich lüstern auf die neue Beute. Es regnete Schläge und Fußtritte, die ‚Neuen‘ wurden mit Steinen beworfen und mit kaltem Wasser begossen […].“[22]
Bei der Ankunft – so vermerkt es seine sog. Effektenkarte[23] – gab Jung ein Paar Schuhe ab, ein Paar Strümpfe, einen Rock oder Kittel (gemeint ist eine Jacke), eine Hose, zwei Hemden, eine Unterhose, einen Binder, verschiedene Papiere wie seinen Aus-schließungsschein aus der Wehrmacht, eine Aktentasche und einen Ring, also kaum mehr als er am Leib trug. Als sog. Vorbeugungshäftling galt Jung innerhalb des Lager-systems als Berufsverbrecher, so der Begriff der nationalsozialistischen Justiz für einen Wiederholungstäter. Sie bildeten unter den Häftlingen eine eigene Gruppe, für die der Lagerjargon die Abkürzung der BVler prägte.[24] Jung wird somit einen grünen Winkel auf seinem Häftlingskittel getragen haben. Fast vier Jahre sollte Jung in Buchenwald verbringen. Wie jeder Häftling musste auch er Zwangsarbeit leisten. Zunächst wurde er dem Arbeitskommando Kläranlage zugewiesen, dann – wohl ab November 1940 – dem sog. Baubüro, wo er als Schreiber tätig war, wie auf einer der in Arolsen erhaltenen Karteikarten vermerkt ist. Der Wechsel des Arbeitskommandos dürfte zweifellos eine Verbesserung bedeutet haben. Auch wird ihm seine berufliche Erfahrung in Buchhaltung und Verwaltung zugute gekommen sein. In der Zwischenzeit hatte seine Verlobte Maria Jessnitz an niemand Geringeren als an Heinrich Himmler persönlich geschrieben und sich erfolglos um eine Entlassung bemüht. Solche Eingaben von besorgten Verwandten konnten für die Häftlinge mitunter fatale Folgen nach sich ziehen, wie auch Kogon berichtet. Die Intervention seiner Verlobten hatte für Jung aber offenbar keinerlei Effekt, weder im Guten noch im Schlechten. Erst die Entwicklungen im besetzten Osteuropa eröffneten ihm eine Möglichkeit, das Lager zu verlassen. Schließlich konnte er am 11. Juni 1943 die Rückgabe seiner Effekten quittieren und wurde mit dem Ziel Berlin aus dem Konzentrationslager entlassen. Auf der Effektenkarte und der Rückseite seines ebenfalls in Arolsen erhalten gebliebenen Ausschließungsscheins wurde die ver-meintliche Tilgung der Wehrunwürdigkeit notiert: „Dirlewanger-Formation“ bzw. „6024 Entlassen 43. Sonderformation“.[25] Carlhans Jung war nicht länger ein Häftling. Jetzt war er – ganz offiziell – ein Grenadier der Waffen-SS.
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Jungs kommandierender Offizier bei der Waffen-SS wurde eine besonders ab-scheuliche Kreatur. Oskar Dirlewanger – einst selbst wegen Verführung einer ab-hängigen Minderjährigen zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und wehrunwürdig aus der Armee ausgestoßen – war ein soziopathischer Schlächter, daran kann kaum ein Zweifel bestehen. Kogon nannte ihn einen „schwer vorbestrafte[n] Bursche[n]“ und einen „der schlimmsten Bluthunde“, er habe persönlich Greuel begangen, die wegen ihrer Abgründigkeit nicht beschrieben werden könnten.[26] Dass Dirlewanger angeblich zuweilen seine Opfer zu Seife verkochen ließ, erschien sogar dem Grandseigneur der Holocaust-Forschung Raul Hilberg so widerwärtig, so abscheulich, dass er es in seinem Opus Magnus zur Vernichtung der europäischen Juden gleich zweimal erwähnt hat.[27] Snyder bemerkt in Bloodlands lapidar, Dirlewanger sei alkohol- und drogenabhängig gewesen und habe zu Gewaltausbrüchen geneigt, an Grausamkeit habe es niemand mit ihm aufnehmen können.[28] Seine „Lieblingsmethode“, so Snyder weiter, „war es, die Bevölkerung in eine Scheune zu treiben, diese anzuzünden und dann mit Maschinen-gewehren auf jene zu schießen, die zu entkommen versuchten.“[29]
Als Jung nun im Sommer 1943 in Weißrussland eintraf, hatte die Sonderformation Dirlewanger dort bereits über 15.000 Menschen ermordet, nicht ausschließlich, jedoch überwiegend jüdischen Glaubens. Dies war die Zahl, die auf Basis seiner eigenen Angaben in der Begründung angeführt wurde, Dirlewanger für seine Verdienste das Deutsche Kreuz in Gold an die Brust zu heften. Offiziell waren die Opfer der Dirlewanger-Truppe allesamt Partisanen, was freilich eine glatte und kaum kaschierte Lüge war, denn mit den tatsächlichen Partisanen, die der deutschen Kriegsführung ja wirklich zu schaffen machten, waren ungezählte tote Frauen, Kinder, Alte in Dirlewangers Mordstatistik gewissermaßen mit eingepreist. Snyder geht davon aus, dass die Sonderformation insgesamt mindestens 30.000 Menschen in Weißrussland ermordete – eine Zahl, die noch einmal doppelt so hoch ist![30] Eine der Karteikarten aus Buchenwald gibt das Entlassungsdatum Jungs mit dem 11. Juni 1943 an. Er traf also wahrscheinlich noch während oder kurz nach dem Unternehmen Cottbus in Weißrussland ein. Laut dem belgischen Historiker Christian Ingrao kamen am 7. Juli 1943 321 neue Männer für die Sonderformation im weißrussischen Lagoisk nordöstlich von Minsk an, 294 davon aus den Lagern Dachau, Buchenwald, Mauthausen und Sachsenhausen[31], wir können wohl davon ausgehen, dass Jung darunter gewesen sein dürfte. Nur eine Woche nach ihrer Ankunft gingen die Männer aus den Lagern im Rahmen der Aktion Günther in den Einsatz, innerhalb von drei Tagen starben hierbei nahezu 4000 Menschen einen gewaltsamen Tod.[32] Bei der Aktion Cottbus hatte die Sonderformation zuvor im Verbund mit zwei SS-Polizei-Regimentern und anderen Einheiten weit über 10.000 Menschen getötet, ein Großteil bei sog. Entminung, was nichts anderes bedeutete, als dass die Opfer zur Räumung von Minenfelder in eben diese hineingetrieben wurden. Wer den Mordaktionen nicht zum Opfer fiel, wurde als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Hierzu ging man seit Beginn 1943 verstärkt über. Der Grund hierfür lag vor allem in der verlustreichen Kriegslage, die zu einem höheren Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland führte. Die Folgen waren durchaus paradox. „Deutsche Männer zogen ins Ausland und töteten Millionen von ‚Untermenschen’“, bringt es Snyder auf eine treffende Formel, „nur damit weitere Millionen von ‚Untermenschen‘ importiert wurden, um in Deutschland die Arbeit zu tun, die sonst deutsche Männer getan hätten – wenn sie nicht im Ausland ‚Untermenschen‘ getötet hätten.“[33]
Während ihres Einsatzes in Weißrussland war die Sonderformation nach und nach angewachsen, auch wenn sie offenbar zeitweilig mit personellen Problemen zu kämpfen hatte. Seit September 1940 hatte sie unter dem Namen SS-Sonderbataillon Dirlewanger bereits Bataillonsstärke von mindestens 400 Mann gehabt. Noch bestand sie ausschließlich aus Wilderern. Trotz geringer eigener Verluste stieg der Personalbedarf der Sonderformation nun jedoch kontinuierlich an. Für die Ausfälle in den eigenen Reihen scheinen dabei weniger tatsächlich in Kampfhandlungen Gefallene ursächlich gewesen zu sein, als vielmehr Desertion oder eigenes Feuer. Zu diesem Schluss gelangt auch Snyder, wenn er anmerkt, dass „während es seine ersten 15.000 Menschen tötete, […] das Sonderkommando Dirlewanger nur 92 Mann [verlor] – viele zweifellos durch eigenes Feuer und Unfälle unter Alkoholeinfluss.“[34] Erneut wurden also alle Strafan-stalten im Reich nach Wilderern durchsucht, dies löste das Personalproblem jedoch nur zeitweilig. Zum Ausgleich stellte man Kompanien aus hilfswilligen Russen und Ukrainern auf. Der SS-Staat verfiel zudem abermals auf eine sonderbare Idee, verfügte man doch über eine schier unerschöpfliches Reserve an Sklaven in den Konzentrationslagern. Die gerieten nun in den Fokus einer Kampagne, die selbst für das nationalsozialistische Deutschland allzu absurd erscheint. Aus Sklaven sollten Soldaten, aus Opfern der SS sollten Täter werden, die selbst in den Reihen der SS kämpften und vor allem: mordeten. Dies galt freilich nur für Häftlinge arischer Abstammung, also vor allem für Kriminelle oder Politische. Offiziell diente es der ‚Bewährung im Fronteinsatz‘, sich freiwillig zur Sonderformation zu melden. Daran, dass sie im Grunde nach wie vor Häftlinge auf Bewährung waren, änderte allerdings auch eine Uniform nichts. Dirlewanger selbst besuchte die Konzentrationslager zur Anwerbung und Musterung geeigneter Häftlinge, der Befehl hierzu kam von Himmler persönlich. 1943 wurde Dirlewangers Truppe auf diesem Wege als SS-Sonderkommando Dirlewanger auf Regimentsstärke gebracht. Nun erhielt die Sonderformation auch jene besondere Kragenspiegel, die zwei gekreuzte Karabiner mit einer Handgranate darunter zeigten.[35]
Wir können mit einigem Recht davon ausgehen, dass Jung sich freiwillig meldete. Dafür spricht zudem eine Anmerkung Kogons, der berichtet, dass in Sachsenhausen und Dachau politische Häftlinge zwangsweise abkommandiert wurden, während es in anderen Lagern bei einer Aufforderung zur freiwilligen Meldung blieb, „wobei sich rotbewinkelte Häftlinge nur in verschwindender Zahl zur Verfügung stellten, in einigem Umfang hingegen Grüne und Schwarze“.[36] Zu den grünbewinkelten BVern gehörte auch Jung. Auch Kogon fiel die Absurdität auf, die sich aus den Rekrutierungen ergeben musste. So hielt er fest: „Erheiternd für die Häftlinge und für manchen von der SS verbitternd wirkte es, wenn so ein BVer, der eben noch von seinem Kommandoführer im Lager Prügel bezogen hatte […] nun plötzlich eine Feldpostkarte an den gleichen Mann sandte, die ‚Mit kameradschaftlichem Gruß […]‘ unterzeichnet war.“[37]
Ob Carlhans Jung je einen solchen Brief geschrieben hat, wissen wir nicht. Ehemalige Lagerhäftlinge hatten aber auch in der Sonderformation keinen leichten Stand. Dort gab es ebenso Prügel wie in Buchenwald. Als würdige Kameraden betrachtete die Waffen-SS die Todgeweihten aus den Lagern ohnehin nicht. Die vormaligen Häftlinge waren das, was gemeinhin als Kanonenfutter bezeichnet werden kann. Sie waren zum Töten gekom-men, das sollten sie nun auch tun, und nach Möglichkeit selbst dabei den Heldentod sterben. Es drängt sich freilich der Vergleich auf, die SS habe hier makabererweise zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen. Dirlewanger – immerhin selbst ein ehemaliger Sträfling – schien den Häftlingen in Uniform zudem zu misstrauen: „Erst kurz vor dem Fronteinsatz erhielten sie Munition ausgehändigt; der geringste Versuch, sich von der Truppe zu entfernen, wurde mit Erschießen geahndet. Die Häftlingskompanien wurden nach Möglichkeit von den anderen Kompanien ferngehalten.“[38]
In Jungs Nachlass haben sich einige Photographien erhalten, die 1943 entstanden sein müssen und auf einen Kradschützenzug hindeuten, dies entspräche auch Jungs militärischer Vorgeschichte als MG-Schütze. Es ist ausgeschlossen, dass er in dieser Zeit nicht mindestens Zeuge von Gräueltaten wurde. „Die Einheiten bekamen ‚Tagesziele‘, die sie üblicherweise erfüllten, indem sie Dörfer umstellten und alle oder die meisten Bewohner erschossen“, so Christian Gerlach, „[s]ie erschossen die Menschen neben Gruben, verbrannten sie wie Dirlewanger und seine Nachahmer in Scheunen oder sprengten sie in die Luft, indem sie sie zur Minenräumung zwangen.“[39] Die Mordaktionen in Weißrussland gingen bis zum Zusammenbruch der deutschen Front im Sommer 1944 unvermindert weiter. Im August mordete die Sonderformation abermals in Polen und beteiligte sich an der Niederschlagung des Aufstandes in Warschau. Im Stadtteil Wola führte sich die Sonderformation „unverzeihlich blutig“ auf, wie Snyder darstellt:
„Dirlewangers Männer brannten drei Krankenhäuser mit ihren Patienten nieder. […] Die polnischen Verwundeten wurden ermordet und die Krankenschwestern wie es üblich war ins Lager der Dirlewanger-Brigade gebracht. Jede Nacht wurden dort Frauen zuerst von Offizieren ausgepeitscht, dann gruppenvergewaltigt und ermordet. Dieser Abend war allerdings sogar nach diesen Standards ungewöhnlich. Zur Begleitung von Flötenmusik errichteten die Männer einen Galgen und henkten dann die Ärzte und die nackten Krankenschwestern“[40]
Die Warschauer Episode hatte noch einmal offenbart, mit welcher barba-rischen Brutalität Dirlewangers Mordbande im Osten jahrelang gewütet hatte. Allein am 5. und 6. August erschoss die Sonderformation dort gemeinsam mit Einheiten der Ord-nungspolizei rund 40.000 Zivilisten. Es war eine ihrer letzten Mordtaten. Das Massaker von Wola gilt gemessen an den Opferzahlen (ca. 200.000) als das größte Kriegsver-brechen während des Zweiten Weltkriegs. Dirlewanger brachte es das Ritterkreuz.
Das alles aber erlebte Jung nicht mehr mit. Er starb „bei den schweren Kämpfen im Osten am 3. Januar 1944 den Heldentod“, wie seine Todesanzeige bekanntgibt.[41] Darauf wird er als Grenadier bezeichnet, nichts, was auf die SS verweist, geschweige denn auf die Sonderformation, nicht einmal auf Weißrussland. Lediglich ein Eisernes Kreuz mit einem Hakenkreuz darin verweist darauf, in wes Geistes Krieg Jung sein Leben gelassen hatte. Die Exequien wurden am 24. Februar morgens um 9 Uhr in der Herz-Jesu-Kirche hier in Euskirchen gehalten. Das jüngste Dokument in seinem Nachlass stammt noch einmal aus der Hand von Maria Jessnitz. Es ist ein Brief an die Frau seines Bruders. Darin schreibt sie am 25. März 1944 aus Aachen:
„So ist es nun überall der selbe Gnatsch u. es ist gut, daß mein lb. Hans schläft u. von all den Gemeinheiten nichts mehr hört.“[42]
Am 8. Mai 1945 waren die ‚Gemeinheiten‘ der Nationalsozialisten vorbei. Euskirchen war schon zwei Monate zuvor, am 4. März, von der US-Army eingenommen worden.[43] Deutschland hatte am Ende bedingungslos kapituliert, seine politischen Führer sollten sich bald schon auf der Anklagebank von Nürnberg wiederfinden, sofern sie sich nicht durch Suizid davonstahlen. Oskar Dirlewanger starb am 7. Juni 1945 im schwäbischen Altshausen in französischer Gefangenschaft, wahrscheinlich nachdem er zuvor von ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern erkannt und schwer misshandelt worden war. Seine Mordbande war im Februar 1945 in die 36. Waffen-Grenadier-Division überführt worden. Da war Dirlewanger längst als Kommandeur abgelöst worden.
Niemand weiß genau, wie viele Menschen im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Schätzungen gehen heute von 60 bis 65 Millionen Toten aus. Hinzu kommen die rund 6 Millionen Ermordeten der Shoah und die zur gleichen Zeit getöteten zahlreichen anderen Opfer und Opfergruppen. Europa war bedeckt mit Gräbern, bekann-ten – und unbekannten. Vor allem den Osten Europas hatte das nationalsozialistische Deutschland in einen Friedhof verwandelt. Allein in der Sowjetunion fanden 25 Mio. Menschen durch Krieg und Besatzung den Tod, im wesentlich kleineren Polen waren es 6 Millionen. Weitere Millionen von Menschen, verschleppt, vertrieben, geflohen, irrten überdies durch das zerstörte Nachkriegseuropa. Von den rund 18 Millionen deutschen Männern, die im Zweiten Weltkrieg bei Wehrmacht oder Waffen-SS Dienst taten, starben rund 5 Millionen. Nahezu eine Million deutsche Soldaten werden nach Angaben des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge bis heute im Osten vermisst.
Irgendwo im Boden Weißrusslands liegen auch die sterblichen Überreste Carlhans Jungs aus dem kleinen Kuchenheim bei Euskirchen. Kein Heldenkreuz markiert seine unbekannte Grabstätte, niemand kommt und legt darauf Blumen ab. Nur auf einer der Gedenktafeln für die Gefallenen beider Weltkriege im Vorraum der Friedhofskapelle seiner Heimatstadt Euskirchen wird seiner noch gedacht. Unter den Toten des Jahres 1944 ist er als ‚Karl Johannes Jung‘ aufgeführt. Eugen Kogon schrieb in seinem Bericht über den SS-Staat: „Denn die Rolle des Menschen im Herrschaftssystem des Terrors ist immer erbärmlich, gleichgültig, wo er seinen Platz in ihm hat.“[44]
[1] Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft II [= Tiedemann, Rolf et al. (Hrsg.): Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Bd. 10.2], Frankfurt am Main 2003, S. 674.
[2] Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 46.
[3] Zit. n. Hofer, Walther (Hrsg.): Der Nationalsozialismus. Do-kumente 1933-1945, Frankfurt am Main 1957, S. 114.
[4] Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2013, S. 250.
[5] Kershaw, Ian: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 503.
[6] Snyder: Bloodlands (wie Anm. 4), S. 261.
[7] Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 186.
[8] Vgl. in summa Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998.
[9] Königliches statistisches Bureau (Hrsg.): Gemeindelexikon für das Königreich Preußen. Heft XII: Provinz Rheinland, Berlin 1888, S. 128, sowie Preussisches statistisches Landesamt (Hrsg.): Gemeindelexikon für das Königreich Preußen. Heft XII: Rheinprovinz, Berlin 1909, S. 58.
[10] Stadtarchiv Euskirchen, Geburtsregister Kuchenheim Nr. 110/1899.
[11] Hiss, Albert: Infanterie-Regiment Kaiser Wilhelm (2. Großherzogliches) Nr. 116 [= Erinnerungsblätter deutscher Regimenter, Bd. 104], Oldenburg 1924, S. 137f.
[12] Stadtarchiv Kassel, Heiratsregister Kassel I, Nr. 35/1932 (Ersatzbeurkundung vom 4. Oktober 1974).
[13] Auguste Grünthal geb. Katzenstein wurde am 26. Januar 1904 in Göttingen/Hannover geboren, ihr Sohn Hermann am 11. Mai 1925 in Frankfurt an der Oder/Brandenburg.
[14] Originaldokument im Nachlass von Carlhans Jung (Privatbesitz Horst Schuh).
[15] Ebd.
[16] Vgl. Yad Vashem: Central Database of Shoah Victims‘ Names (https://yvng.yadvashem.org/), sowie Das Bundesarchiv: Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945 (https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/), abgerufen am 16.4.2023.
[17] Vgl. Beischreibung auf Heiratsurkunde (wie Anm. 13).
[18] Ebd.
[19] Vgl. Arolsen Archives, https://collections.arolsen-archives.org/de/document/6205351, abgerufen am 3.5.2023.
[20] Nachlass (wie Anm. 15).
[21] Ebd.
[22] Kogon, Eugen: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 94f.
[23] Arolsen Archives, https://collections.arolsen-archives.org /de/document/6205348, abgerufen am 3.5. 2023.
[24] Vgl. Kogon: SS-Staat (wie Anm. 23), S. 68. Kogon übersetzt die Abkürzung BV offenbar irrtümlich mit „befristeter Vorbeugungshäftling“, die Bezeichnung Berufsverbrecher sei hieraus hervorgegangen, was jedoch inzwischen als widerlegt gilt.
[25] Arolsen Archives, https://collections.arolsen-archives.org /de/document/6205351, abgerufen am 7.5. 2023.
[26] Kogon: SS-Staat (wie Anm. 23), S. 342.
[27] Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden (Bd. 1), Frankfurt/M. 1990, S. 1033 und S. 1077.
[28] Snyder: Bloodlands (wie Anm. 4), S. 250.
[29] Snyder: Bloodlands (wie Anm. 4), S. 251.
[30] Ebd.
[31] Ingrao, Christian: The SS Dirlewanger Brigade. The History of the Black Hunters, New York 2011, S. 28.
[32] Vgl. ebd., S. 29.
[33] Snyder: Bloodlands (wie Anm. 4), S. 254.
[34] Ebd., S. 259.
[35] Auerbach, Hellmuth: Die Einheit Dirlewanger. In: Viertel- jahreshefte für Zeitgeschichte, 10 (1962), H. 3, S. 250-263, S. 252.
[36] Kogon: SS-Staat (wie Anm. 23), S. 342.
[37] Ebd., 342f.
[38] Auerbach: Einheit Dirlewanger (wie Anm. 37), S. 259.
[39] Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißruss-land 1941 bis 1944, Hamburg 1999,, S. 966.
[40] Snyder: Bloodlands (wie Anm. 4), S. 310.
[41] Nachlass (wie Anm. 15).
[42] Ebd.
[43] Vgl. Lüttgens, Karl J.: Chronik des Kreises Schleiden/Euskirchen und seiner Nachbarn. Ereignisse, Personen, Orte, Daten, Zusammenhänge. 1792-1980, Schleiden-Gemünd 2010, S. 431.
[44] Kogon: SS-Staat (wie Anm. 23), S. 37.